Budiamin     (die Vorgeschichte)


Das Folgende ist eine leicht gekürzte Version des "Bettelbriefes", den ich verschickte kurz nachdem ich ihn kennengelernt hatte, um damit genug Geld für seine Behandlung aufzutreiben.

(Und am Ende erzähle ich Euch noch, wie's weiterging...)

Jürgen Dahm
im Februar 1997

Budiamin Budiamin

1985 geboren, also Ende 1996 ca. 11 Jahre alt. 3. Klasse Grundschule.
Wohnt in xxxxx. Mutter starb, als er etwa 6 Monate alt war; Vater Saptudin heiratete wieder, versteht sich aber scheinbar ganz gut mit seinem Sohn. Er ist Fischer + Seegras-Bauer und lebt mit 2. Frau und 3 Kindern (Mädchen 2. Klasse, Junge 1. Klasse, Baby 6 Monate). Budiamin lebt bei Großmutter mütterlicherseits und deren einzigen überlebenden Sohn (älterer Bruder der Mutter) in einem Haus direkt hinter der Moschee.
Ältere Schwester geht in xxxxx zur Schule (Internat ?); und ein noch älterer Bruder, über den ich gar nichts weiß.

Budiamin fiel mir auf, als ich mit der Gruppe Ende Dez.96 für wenige Stunden in xxxxx war: Er verkaufte Muscheln an Touristen, humpelte, konnte nur ganz zusammengekauert sitzen: Sein linkes Bein ist zu kurz, dünn und schwach, und um fast 90 Grad nach Innen gedreht. Ich unterhielt mich mit ihm (er wußte nichts, außer daß das schon als Baby passierte), schaute ihn mir näher an: Drehen oder Beine-Spreizen geht gar nicht (schmerzt in der Hüfte); Hochziehen des Vorderfußes schmerzt in der Rückseite des Oberschenkels. Dann fuhr ich kurz mit ihm "nach Hause", wo ich leider nur die Stiefmutter antraf, die auch nicht viel wußte. (Und ich wußte noch nicht, daß er bei der Großmutter lebte, die mir sicher mehr hätte erzählen können.) Ich tippte auf Polio; nur wie die drei schlimmen Narben auf dem linken Gesäß, wo sich angeblich etwa zur gleichen Zeit tiefe Geschwüre gebildet hatten, damit in Zusammenhang stehen sollten, verstand ich noch nicht.
Budiamin schlafend mit den ganz verdrehten Beinen. Ich nahm mir vor, später mal nach ihm zu sehen; sagte ihm aber gleich, daß man das Bein höchstens drehen könne; auf keinen Fall würde es länger oder kräftiger. (Und falls operativ gar nichts geht, könnte man zumindest durch Spezialschuhe den Längenunterschied ausgleichen.)

Als ich im Januar wieder auf Lombok war, fuhr ich bald hin und holte ihn zu uns ins Hotel. (Samstags nach der Schule, damit wir Zeit hatten uns kennenzulernen; Montag würde ich ihn röntgen lassen.)
Nach Gespräch mit dem Vater (es passierte im Alter von 12 Monaten; er hatte kein Fieber; ...), und nachdem ich selbst ihn mir näher angeschaut und "untersucht" (= von allen Seiten abgetastet) hatte, war ich mir sicher, daß dies nicht von Kinderlähmung stammte: Scheinbar war die Hüfte "ausgerenkt"; der Kopf des Oberschenkelknochens sitzt außerhalb des Gelenkes viel zu weit oben seitlich neben dem Hüftknochen.

Montag (alle Privatpraxen öffnen nach 17 Uhr) fuhren wir zum Röntgen; vom Röntgen-Facharzt wollte ich mir empfehlen lassen, zu welchem Arzt ich gehen müsse (oder ob man dafür nach Bali oder Java muß; oder ob gar nichts zu machen ist).
Meine "Diagnose" stimmte; das Hüftgelenk war kaputt, der Oberschenkelknochen sitzt genau da, wo ich ihn ertastete/vermutete. (Und nur deshalb ist das Bein zu kurz: Es ist einfach nach oben "verschoben".) Worauf ich allerdings nie gekommen wäre: Auslöser der ganzen Misere ist Tuberkulose !
Die gute Nachricht: Gerade erst seit 6 Monaten gibt es auf Lombok einen Orthopäden. (Das muß man sich klarmachen: Eine ganze Insel, eine halbe Provinz, in der es bisher keinen einzigen Orthopäden gab !!!) Zu dem fuhren wir jetzt; und der scheint sehr zuversichtlich, daß er mit einer Operation und 2-3 Wochen Streckbett das Bein wieder in normale Position bringen kann. (Dünner und schwächer als das andere wird es allerdings bleiben.) - Das werde ich nun also im Sommer machen lassen.

Ausschnitt aus der Röntgenaufnahme.
Ausschnitt aus der Röntgenaufnahme.
Links im Bild das "normale" Gelenk; rechts sieht
man deutlich, daß der zu kleine Kopf des
Ober­schen­kel­knochens oberhalb und
außerhalb des Gelenkes liegt.

Die schlechte Nachricht: Der Junge hat seit seinem 12. Lebensmonat (und bis heute immer noch) Tuberkulose: TBC in der Lunge und im Knochen der Hüfte. Dies hatte die Zersetzung des Gelenkes bewirkt, so daß schließlich der Oberschenkel aus dem Gelenk rutschte. (Und das "nach-außen-Durchbrechen" dieser Infektion verursachte die drei schlimmen Narben am Gesäß.)
Noch immer Schatten in der Lunge; noch immer Infektion im Hüftknochen; der Knochen des Oberschenkels wird nach wie vor weiter "zerfressen" und immer dünner, der kleine Rest des Gelenkkopfes wird immer weniger werden.
Nun wird also die TBC medikamentös behandelt: 6-9 Monate lang 1x monatlich zum Arzt, täglich 3 Tabletten (monatlich 53 Mark), plus Fahrtkosten, Spesen usw. Damit soll hoffentlich auch die Infektion in der Hüfte gestoppt werden.

Da ich gerechnet hatte, daß wir höchstens zu 1-2 Ärzten müßten, hatte ich versprochen, ihn Dienstag oder Mittwoch wieder nach Hause zu bringen. Doch nun mußten wir Bluttests machen, die drei Tage dauern. So fuhren wir Mittwoch nach xxxxx, sprachen mit dem Vater und der restlichen Familie: Ich mußte sie informieren und wollte zugleich sehen, wie sie reagieren, ob sie zur Mitarbeit bereit sind. (270 Tage lang niemals das Tabletten-Schlucken zu vergessen ist eine ganz schöne Aufgabe; und auch wenn er operiert wird, muß ja mindestens ein Familienmitglied bereit sein, bei ihm im Krankenhaus zu bleiben.) So stellte ich die Probleme keinesfalls beschönigt dar, machte die Familie ausreichend betroffen; ich glaube, sie haben den Ernst der Lage erfaßt und werden sich kümmern.

Nachmittags fuhren wir wieder zurück. Donnerstag Abend zum Labor, dann zum Arzt: Die Blutwerte sind gut, außer der TBC fehlt ihm nicht; keine Einwände gegen die Operation.

Große Probleme gab es mit den Tabletten: Die eine Kapsel selten groß, die andere so klebrig, daß auch ich Schwierigkeiten gehabt hätte, sie zu schlucken. Er kriegte sie einfach nicht runter; und wenn er sie endlich geschluckt hatte, erbrach er sie meistens wieder. - Bis wir am Donnerstag den Arzt fragten, der sagte, daß es kein Problem sei, die zu öffnen und nur das Pulver (mit Wasser, Zucker, Honig, Obst) zu schlucken.

Freitag früh brachte ich ihn zurück nach Hause.
Am Samstag richteten wir ein weiteres Sparbuch ein; ich deponierte 600.000 Rupies für die nächsten 5 Monate (Transport, Arzt, Tabletten; evtl. Labor, evtl. Röntgen).
Den Rest übernimmt Rumenah: Am 1.Feb. wird er vorsichtshalber dort anrufen (damit sie es nicht vergessen), am 3. Feb. wird er Budiamin und seinen Vater oder Onkel abholen und mit ihnen zum Arzt fahren, anschließend die Medikamente kaufen. Von da an wird es einfacher: wenn der Onkel sich erst einmal auskennt, können sie sich gleich am Krankenhaus treffen, Rumenah muß nur bezahlen.

>>> Nachdem er am ersten Abend gleich wieder nach Hause fahren wollte, lebte er sich schnell gut ein. Fühlte sich so wohl, daß er am Ende noch über das nächste Wochenende bleiben wollte (was ich aber wegen der Schule nicht erlaubte). Auch mit den anderen Kindern kommt er gut aus, und auch die mögen ihn.


ENDE


Wie es weiterging?

Im Sommer 1997 hatten wir die TBC bereits ziemlich unter Kontrolle. Er konnte operiert werden.
55 Tage im Krankenhaus. Zwei Operationen.
Leider war er einer der unwilligsten Patienten, die ich je hatte. Er arbeitete nicht mit. Der Vater konnte ihn nicht kontrollieren; die Großmutter - wenn sie im Krankenhaus auf ihn aufpassen mußte - weinte nur.
Schließlich gab auch der Arzt auf. Es war unter den hiesigen technischen Voraussetzungen ohne die Mitarbeit des Patienten nicht möglich, die Sehnen weit genug zu strecken, um das Bein in seine frühere Postion zurückzuführen.

Mit dem erreichten Teil-Erfolg sind wir trotzdem einigermassen zufrieden - und Budiamin ist bis auf den heutigen Tag sehr zufrieden:
Das Bein ist zwar dünner und wesentlich kürzer. Aber es ist gedreht! Er kann normal sitzen, er kann die Beine spreitzen, er kann Fahrrad fahren. Und während er früher auf 15 Minuten Schulweg dreimal Pause machen mußte, macht er heute ausgedehnte Spaziergänge am Strand entlang.


Er ist nicht sehr intelligent; er hört schlecht; und er ist faul. Er war mehrmals sitzengeblieben und 1999 mit 14 Jahren erst in der 4. Klasse. Da empfahl der Vater ihm, die Schule aufzugeben.
Heute arbeitet er, was ihn schon von Kind auf begeisterte: Als Fahrer eines der als örtliches Taxi fungierenden Pferdewagens.


Die Tuberkulose sollte weiterhin kontrolliert werden. So holte ich ihn jedes Jahr einmal für ein paar Tage zu uns und fuhr mit ihm zu den Ärzten und Labors. Im Sommer 2000 waren die Röntgenaufnahmen und Blutwerte so gut, daß der Facharzt ihn als geheilt entließ und wir nicht mehr zu kontrollieren brauchen.
Trotzdem holte ich ihn auf seine Bitte noch einmal für fünf Tage zu uns, weil er gerne bei uns und den Kindern, die er hier kennengelernt hatte, Urlaub machen wollte. - Aber dann wurde er auch schon nervös: Wie es seinem Pferd gehe; und ob sein Vertreter die Arbeit gut mache. Und so brachte ich ihn wieder nach Hause.


Jahrelang hatte ich nichts von ihm gehört. 2008 erzählte Amir mir eher zufällig, dass er den öfters treffe. Ich gab ihm ein altes Foto mit, das ich nach seinem letzten Besuch immer noch für ihn aufhob.
Er habe sich sehr gefreut und lasse mir Grüße ausrichten. - Er arbeite als Masseur bei den Touristen am Strand.
 


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